Serien-Spezial von Jochen König (01.2020) / Titel-Motiv: © Edel Motion/Glücksstern
In der ersten Staffel von „Springflut“ bekam die Polizeischülerin Olivia Rönning einen Cold Case als Studienübung zugewiesen. Der ungelöste Mord an einer jungen Frau, die am Strand bis zur Hüfte eingegraben wurde und während der Springflut ertrank, führt Olivia nicht nur zu den Mördern, sondern beschert ihr auch tiefe und überraschende Einblicke in die eigene Familiengeschichte. Dass die angehende Polizistin bei der Recherche und lebensgefährlichen Ermittlung nicht unter die Räder gerät, hat sie unter anderem dem ins Obdachlosenmilieu gerutschten Ex-Kommissar Tom Stilton sowie dem ehemaligen Messerwerfer, und jetzigen Mann für alle Fälle, Abbas El Fassi zu verdanken. Beide werden in der zweiten Staffel wieder auftauchen.
Paarshippen in Literatur und Fernsehen
„Springflut“ ist ein stilvoll inszenierter, spannender Scandi-Noir, der seine düstere Handlung bei viel Sonnenschein präsentiert. Ungewöhnlich für die Verfilmung eines skandinavischen Kriminalromans.
Die Vorlage stammt vom Autoren- und Ehegespann Cilla und Rolf Börjlind, die bei beiden Staffeln auch am Drehbuch beteiligt waren. Eine Rezension zum ersten literarischen Rönning/Stilton-Auftritt findet sich hier.
Klar, dass solch ein gelungener und erfolgreicher Serienstart eine Fortsetzung nach sich ziehen musste. Leider kann die Fortsetzung das Niveau des Vorgängers nicht halten. Das liegt nicht an den ansprechenden Darstellerleistungen und möglichen inszenatorischen Mängeln (zumeist jedenfalls nicht). Doch gemach.
Zurück aus Mexiko direkt ins Desaster
Nach den aufreibenden Erlebnissen während ihrer Ausbildung hat sich Olivia Rönning ein halbes Sabbatjahr im Ausland gegönnt, bevor sie in Schweden mit der Polizeiarbeit beginnt. Eine Entscheidung diesbezüglich fällt sie aber im gesamten Staffelverlauf nicht. Stattdessen agiert sie als Ermittlerin von eigenen Gnaden. Denn es wird wieder persönlich.
Gleich bei der Heimkehr läuft Olivia Nachbarstochter Sandra in die Arme, deren Vater, der Zollfahnder Bengt Sahlman, augenscheinlich kurz vor ihrer Ankunft Selbstmord begangen hat. Man muss kein ausgewiesener Krimikenner sein, um zu ahnen, dass an dem angeblichen Suizid etwas faul ist. Ohne Überbrückungszeit steckt Olivia mitten in einer tückischen Ermittlung. Die sie zum scheinbar offenkundigen Missfallen ihrer mütterlichen Mentorin Mette Olsäter stetig und stur vorantreibt. Mette fahndet selbst mit ihrem Team nach dem Täter, beziehungsweise den Tätern. Denn ein ganzes Arsenal an möglichen Verdächtigen tut sich auf, die es auf den Zollfahnder und alleinerziehenden Vater abgesehen haben könnten. Gleichzeitig steht die hochrangige Polizistin selbst unter Druck, denn ihr Intimfeind, der unfähige, korrupte Bulle (im wahrsten Sinn) Rune Forss wird überraschend zu ihrem Vorgesetzten ernannt. So muss Olsäter an zwei Fronten kämpfen, was ihrer angeschlagenen Gesundheit gar nicht bekommt. Ganz undankbar ist sie also nicht, dass Olivia Rönning heimlich mitmischt.
Ermittlungen auf eigene Faust
Olivia findet einen Mitstreiter und Love Interest in dem investigativen Journalisten Alex Popovic und Hauptverdächtige im alerten Geschäftsmann Jean Borell und seinem Handlanger Magnus Thorhed. Die beide in die zwielichtigen Machenschaften einer vorgeblich illustren Seniorenresidenz verwickelt sind, in der Bengt Sahlmanns Vater unter mysteriösen Umständen verstarb. Dort vermutet Olivia auch die Ursache für Sahlmanns vermeintlichen Selbstmord.
Tom Stilton ist ihr vorerst keine Hilfe, denn der jagt in Marseille gemeinsam mit Abbas El Fassi dem Mörder dessen ehemaliger großen Liebe hinterher. Diese Reise führt weit in die Unterwelt Marseilles, explizit in die Pornobranche, und wird sich vor allem für Abbas als lebensgefährlich erweisen. Denn man kennt ihn in Frankreich und schätzt seine Gegenwart überhaupt nicht.
Es dürfte kein Geheimnis und Spoiler sein, dass beide Fälle miteinander zu tun haben. Wenn auch auf eine unerwartete und überraschende Weise. Freundlich ausgedrückt. Abstrus ist allerdings treffender.
Unterhaltsam übers Knie gebrochen
Das beste am zweiten Teil der „Springflut“ ist die letzte Folge. Respektive Doppelfolge, denn wie gewohnt werden die einzelnen Episoden des schwedischen Originals auf DVD (eine Blu ray-Ausgabe wie beim Vorläufer gibt es diesmal nicht) auf Spielfilmlänge zusammengefügt. Das passt. Sehr gut sogar, denn jede weitere Aufsplittung lässt den Flickwerk-Charakter des gesamten Projekts noch offensichtlicher werden. Es ist eine große Kunst, dass auf der abschließenden DVD die teils hirnrissigen Ereignisse lässig, selbstbewusst und unterhaltsam zusammengefasst werden. Natürlich gibt es noch einen Twist zum Abschluss. Wer den allerdings nicht hat kommen sehen, der braucht auch die Schriftzüge „Rechts“ und „Links“ auf seinen Socken.
„Die dritte Stimme“ ist der zweite Roman der Rönning/Stilton-Reihe. Folgerichtig lieferte er die Vorlage fürs aktuelle Serienevent. Das man sich, besonders als Wertschätzer der ersten Staffel, zwar getrost anschauen kann, das aber unter seinen vielen Lasten ächzt und stöhnt.
Ein Lob der Schauspielkunst
Die darstellerischen Leistungen sind wieder vorzüglich. Kjell Bergqvist als Tom Stilton ist eine sichere Bank, Dar Salim als Abbas El Fassi eigentlich auch, leider wird er nach präsentem Beginn auf die Ersatzbank geschickt. Mette Olsäter (Cecilia Nilsson) und ihr Mann, der Jugendpsychologe Marten (Michael Segerström), sind ebenfalls Garanten ansehnlicher Schauspielkunst. Kerouac, die musikliebende Spinne kommt zu kurz. Saga Samuelsson als Sandra agiert überzeugend nervig in ihrer Mischung aus angepisstem Teenager mit Hang zum Stalken und verletzter Seele, steht allerdings viel zu oft an der Dachkante, weswegen diese Aktion als Spannungseffekt kaum taugt. Nicht zu vergessen Kjell Wilhelmsen als Ekelpaket Rune Forss, der es schafft, Zuschauer*innen an die Serie zu binden, allein, weil man erfahren möchte, ob es ihm endlich an den Kragen geht.
Olivia Rönning – die gebeutelte Schönheit
Subjektiv schaut man Julia Ragnarsson aka Olivia Rönning beim verzweifelt aus der Wäsche schauen mit Behagen zu. Objektiv betrachtet macht sie kaum etwas anderes. Olivia ist wie gewohnt leider so überfordert wie glücklicherweise hartnäckig und dabei bleibt es auch. Zwecks oberflächlicher Dramatik muss sie immer wieder ähnliche Fehler begehen, in dieselben Fallen tappen, sich kopfüber blind ins Verderben stürzen. Gut, dass Tom ihr aus dem gröbsten Schlammassel hinaushilft.
Nur ein Beispiel: Anstatt den Laptop, der Sandra gehört, aus einem Haus zu klauen, in das Olivia illegal eingedrungen ist und für das es nie einen Durchsuchungsbefehl geben würde, fotografiert sie langwierig Bildschirmseiten. In einem Raum, der sich von außen hermetisch verschließen lässt. In einem Gebäude mit nahezu lückenloser Videoüberwachung, wenn man vom Strandzugang absieht, der unsinnigerweise ohne Kameras auskommt. Ihr seht das Problem? Dumm genug zu sterben, überlebt Olivia lediglich aus einem Grund: Sie ist die Hauptfigur der Serie. Den Laptop darf sie indes nicht in die Hände bekommen, da er an anderer Stelle noch von Bedeutung wichtig sein wird.
Es passiert, was passiert, weil es passiert
Zu viel geschieht nur, weil folgende Ereignisse es dramaturgisch verlangen, nicht, weil es logisch, konsistent oder bloß nachvollziehbar wäre. Anderes wird eher beiläufig zu Ende gebracht, wie der Strang um das tödliche Medikament in einer scheinbaren reizenden Seniorenresidenz etliche Opfer fordert. Führt fast zu einem Happy End, bei dem vorher brandgefährliche Kombattanten sich lammfromm ihrem gitterbewehrten Schicksal ergeben. Das wird immerhin nicht uncharmant umgesetzt und ist vermutlich realitätsnäher als ein blutiger Showdown auf der Öresundbrücke.
Warten auf das, was kommen wird
Was sowieso der falsche Austragungsort wäre. Denn mit keiner Staffel von „Die Brücke“ (wie fast zu erwarten hat Julia Ragnarsson dort ihr Nordic Noir-Reifezeugnis abgelegt) kann es der zweite „Springflut“-Teil qualitativ aufnehmen. Auch nicht mit seinem direkten Vorgänger. Die atmosphärischen, musikalischen und schauspielerischen Leistungen retten „Springflut 2“ über die Zeit. Eine typische Übergangsstaffel. Sie lässt das Interesse nicht ganz abflauen, erinnert in den besten Momenten an die attraktiven Leistungen der ersten Sendefolgen und lässt die Frage bang im Raum, ob die unweigerlich folgende dritte Saison wieder zu alter oder neuer Stärke aufläuft.
Springflut - Staffel 2
VÖ: 8.11.2019
Disc-Anzahl:3 DVDs
Laufzeit: 441 Min.
Sprache: Deutsch, Schwedisch
Untertitel:Deutsch
Bildformat:16:9
Ton-Format: Dolby Digital 5.1
Cover und Fotos: © Edel Motion/Glücksstern
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